Wenn ich mit der U-Bahn allein schon 10 Minuten in Richtung
Südwesten unterwegs bin und dann aussteige, komme ich mitten in Santiago in
einer völligen anderen Welt an.
Leo sagt gerne mal zu mir, dass Chile ein Entwicklungsland
ist und wenn ich aus dem Fenster unserer Wohnung schaue und mir die ökonomische
Situation Chiles vor Augen führe, dann kann ich das ihm nicht so recht glauben.
Gerne korrigiere ich ihn dann: „Aber Chile ist doch eindeutig ein
Schwellenland!“ Rein ökonomisch stimmt das natürlich, aber auf das praktische
Leben trifft dies für viele Bürger Chiles aufgrund der ungerechten Verteilung
des Reichtums nicht zu. Hier im gut gestellten Viertel vergesse ich das oft,
selbst wenn mich Bettler am Straßenrand und die Arbeiter auf der Straße immer wieder
daran erinnern wollen.
Ein junger deutscher Kollege, Raphael Quandt, ist nach
seinem Vikariat in Bayern mit seiner Frau für drei Jahre nach Santiago gezogen,
um in zwei klitzekleinen Gemeinden im Südwesten Santiagos zu arbeiten und mit
den Menschen dort zusammenzuleben. Eine deutsche Freiwillige und er hatten mich
zu einem Gottesdienst mit frühem Abendbrot eingeladen. Also habe ich mich in
das Viertel La Bandera aufgemacht. 1,5 Stunden war ich unterwegs. In La Bandera
gibt es keine Hochhäuser, keine Bäume, keine Grünflächen Die Häuschen sind
klein und nicht gerade im besten Zustand. Überraschenderweise hatte ich keine
Probleme an der richtigen Haltestelle auszusteigen und die Straße zu finden,
ich hatte mir die Straßennamen gut eingeprägt. (Dafür musste ich aber an der
U-Bahnstation erst mal den richtigen Bussteig finden…) Gitarrenklänge und
kräftiger Gesang leiteten mich in das witzigkleine Kirchgebäude. Der
Gottesdienst fand in einem offenen gemütlichen Kreis statt, obwohl ich sehr
viel später kam, hatte ich noch nicht die Predigt verpasst. Vorm Abendmahl
konnten alle Anwesenden ihre Gebetsanliegen mitteilen. Sehr viele Sorgen machte
allen das Schicksal einer Bekannten, die vor ihrem Mann geflohen ist, weil er
sie geschlagen hatte. Sofort überlegten einige Frauen mit dem Pastor, wie sie
am besten in einem Frauenhaus unterkommen kann. Aber es gab auch
Dankesanliegen, wie der Besuch eines Enkels oder eine neue Arbeit. Die Menschen
in der Comunidad La Bandera haben wirklich nicht viel. Das Kirchgebäude ist sehr
schlicht, die Tische und Stühle alt. Die Tischdecken schmücken sich schon mit
Flecken. Doch die Gemeindemitglieder lassen es sich trotzdem gut gehen. Sie
kommen zusammen, um neue Kraft für die Woche zusammen, um einander alle Freuden
und Sorgen zu teilen, um miteinander zu lachen und zu feiern. Jeder hatte eine
Kleinigkeit zu Essen mitgebracht.
Solch eine Kirchgemeinde hat es nicht leicht. Die meisten
Mitglieder haben nicht viel Geld, um etwas zur Aufrechterhaltung des Kirch- und
Versammlungsgebäudes beizusteuern und die Betreuung der Gemeinde zu
finanzieren. Es bleibt nichts anderes übrig als sich mit den Grundlegendsten zu
begnügen. Dass es überhaupt einen Pfarrer gibt, der regelmäßig Gottesdienste
macht, der für die Mitglieder da ist, der die Mitglieder bei Treffen begleitet,
ist schon sehr viel, wenn man sich den mit einer anderen Gemeinde teilt…
Auf dem Rückweg in der U-Bahn bekam ich einen Streit
zwischen Mutter und Sohn mit. Er war wütend, weil sie ihm Druck in der Schule
macht und die musikalische Ausbildung nicht weiter finanzieren kann. Sie war
wütend, weil er das nicht versteht. Der Sohn verzog sich in einen anderen Teil
der U-Bahn. Die Mutter war emotional aufgewühlt und rechtfertigte sich vor mir
wegen ihrem Verhalten. Mir tat die Diskussion vor allem deswegen leid, weil es
nicht um etwas Materielles, sondern um Bildung und ideelle Güter ging. Dieses
Erlebnis bestätigt mir die Herausforderung der „Chancenungleichheit“ vor die
Menschen in Chile stehen.
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